Das Weihnachtslicht (Therapeutische Geschichte) 6/8

Ein Weihnachtslicht ist eine besondere Erscheinung. Es leuchten zwar zur Weihnachtszeit viele Lichter, aber Weihnachtslichter leuchten, wo menschliche Wärme, Herzlichkeit und Liebe sich zeigen. Dabei ist ein Weihnachtslicht nicht unbedingt heller oder größer als andere Lichter und es leuchtet auch nicht nur im Dezember. Es ist aber ein Licht, das so voller Wärme leuchtet, dass es Menschen berührt und Herzen wärmt. Von acht dieser Weihnachtslichter will ich Euch berichten.

 

6. Licht „Die Predigt“ -gewidmet Julia-

An einem Sonntagmorgen ging Lucia in die Kirche. Sie mochte die feierliche Atmosphäre und die meisten Menschen dort waren freundlich zu ihr. Sie hatte im Leben viel Pech gehabt. Ihr Elternhaus war nicht sehr liebevoll gewesen, was die Schule nicht leichter und ihren beruflichen Weg nicht erfolgreicher gemacht hatte.

Heute sollte ein bekannter Prediger aus Amerika, Michael Johns, kommen und eine Gastpredigt zur Nächstenliebe halten. Sie hörte gerne den Predigten zu. Der Pfarrer hatte eine so schöne Stimme, wie sie fand, und seine Worte regten sie meist zum Nachdenken an. Sie war extra früh in Kirche gegangen, um noch einen guten Platz aussuchen zu können und den Gast auch gut zu sehen und zu hören.

In der vierten Reihe direkt am Mittelgang hatte sie einen Platz gefunden. Es waren noch nicht so viele Menschen da. Nur ein junger Mann schräg von ihr -unter der Kanzel- war ihr aufgefallen, der lächelte sie so nett an. Langsam füllte sich der Raum. Plötzlich kam eine Frau im sehr schicken Mantel und stellte sich neben sie. In der Sitzreihe waren noch 2-3 Plätze rechts neben Lucia frei geblieben, weil dort ein Pfeiler die Sicht einschränkte. Die so schick gekleidete Frau schaute Lucia an und fragte, ob noch zwei Plätze frei wären – für sie und ihren Mann. Lucia stand auf und wollte die Dame durchlassen. „Rutschen Sie doch einfach durch. Da hinten sehe ich ja nicht so gut“, sagte die Dame.

Lucia sah sie an und überlegte und verzog das Gesicht. „Hören Sie, ich bin Frau van Itas, mein Mann ist der Chefarzt im Klinikum hier. Wir spenden dieser Gemeinde jedes Jahr viel Geld. Da werden wir wohl einen vernünftigen Sitzplatz bekommen können.“, polterte die Frau ihr entgegen. Lucia war irritiert, traurig und eingeschüchtert zugleich. „Bitte … setzen Sie sich.“, war das einzige, was sie noch sagen konnte.

Sie überlegte, die Kirche zu verlassen … oder doch noch einen anderen Platz zu suchen, um der Predigt zuhören zu können. Der junge Mann, der sie so freundlich angelächelte hatte, hatte das Ganze beobachtet und winkte Lucia zu. Sie sah ihn verwundert an und er winkte noch deutlicher und zeigte auf einen freien Sitz neben seinem. Die Kirche war schon sehr voll. Bevor sie gar keinen Platz mehr finde würde, war dieser immerhin in der Nähe der Kanzel. „Tut mir leid, was da gerade passiert ist.“, sagte er als Lucia sich setzte, „aber so werde ich Deine Gesellschaft genießen. Ich bin Michael.“ „Lucia“, antwortete sie kurz. Selten war ein Mann so nett zu ihr gewesen und hatte etwas so Freundliches, Anerkennendes zu ihr gesagt. In ihr spürte sie ein warmes Gefühl und ihre Augen wurden wässrig – eine kleine Träne bildete sich im Augenwinkel. Ein Sonnenstrahl, der durch das Kirchenfenster fiel, brach sich darin. In diesem Funkeln wurde ein Weihnachtslicht geboren.

Der junge Mann stand plötzlich auf und ging die Kanzel hinauf. Er stellte sich kurz vor und sprach davon, wie er aus seiner Heimatstadt vor einigen Jahren nach Amerika ging und jetzt zurückkam, um hier heute eine Predigt zu halten. Dann sprach er über Nächstenliebe und wie diese im Alltag aussehen kann. Eine Dame fühlte sich sichtlich unwohl dabei.

Nach der Predigt geleitete Michael Lucia unter den Blicken vieler anderer noch bis zu Tür. Sie lächelte, wie sie vielleicht noch nie in ihrem Leben gelächelt hatte und nahm dieses warme Gefühl mit nach Hause.

 

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(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2016)

 

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