Die Trauerweide (Therapeutische Geschichte)

Die Trauerweide

 

Auf dem Friedhof einer kleinen Stadt befand sich so ziemlich in der Mitte ein kleiner Teich. Direkt an dem kleinen Teich stand eine Trauerweide. Sie war schon viele Jahre alt und hatte viele Menschen kommen und gehen gesehen. Einige, die auf den Friedhof gingen, um ihre Verstorbenen zu besuchen, setzten sich in den Schatten des Baumes – auf die kleine Bank, die dort stand.

 

Viele Tränen hatte die Trauerweide schon gesehen und Trauernde weinen und klagen gehört. Doch sie schwieg. Vielleicht war es auch das schweigende Zuhören, das so viele Menschen schätzten und sie im Kreise des Baumes ihren Kummer aussprechen ließ. Anfangs hatte sie versucht, den Menschen etwas zuzuflüstern, um sie zu trösten, doch keiner hatte sie gehört. Auch Vögel saßen in den Zweigen des Baumes. Doch wenn sie dort saßen, sangen sie keine Lieder oder zwitscherten miteinander. Die Weide war ein besonderer Ort und alle respektierten dies.

Weil sie schon so alt war, überragte die Trauerweide viele der jüngeren Bäume und konnte alles bemerken, was auf dem Friedhof geschah. Sie wusste auch genau, wo die letzte Ruhestätte eines jeden war.

Eines Tages setzte sich der kleine Linus auf die Bank. Linus war erst 9 Jahre alt und hatte doch schon vieles erlebt. Seine Eltern standen nur wenige Meter von ihm entfernt an einem Grab. Beide hielten ihre Hände und weinten. Sein kleiner Bruder Benjamin war vor einigen Tagen verstorben. Auch Linus war sehr traurig. In diesem Jahr wäre Benni, wie er ihn nannte, sieben geworden und in die gleiche Schule eingeschult worden, wie er.

Die beiden konnten sich streiten, wieder vertragen und spielten sehr gerne miteinander. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass Benni nie wieder mit ihm spielen würde. Vor einigen Wochen musste Benni ins Krankenhaus. Dort hatten Ärzte festgestellt, dass Benni sehr krank war. Schon damals hatten seine Eltern viel geweint. Linus hatte es nicht verstanden. Schließlich ging er fest davon aus, dass er bald wieder mit Benni spielen würde.

Als er daran dachte, wie er doch immer mit Benni um die Wette gelaufen war, sie gemeinsam im Park mit den Fahrrädern übten oder mit ihren Eltern spielten, wurde Linus sehr, sehr traurig. Bisher hatte er kaum geweint, aber unter der Trauerweide kullerten seine Tränen die Wangen herunter.

Die alte Trauerweide hatte schon so oft Tränen gesehen und einfach nur zugehört. Doch als Linus Tränen auf ihre Wurzeln trafen, …

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(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2016)

 




 

 

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