Klara (Therapeutische Geschichte)

In einem Dorf am Hang eines Berges wohnte das Mädchen Klara. Ihre Eltern waren verstorben, weshalb sie bei ihrer Tante aufwuchs. Die Tante hatte ein eigenes Kind – Magnus. Er war zwar nicht so gescheit und fleißig wie Klara, aber als ihr eigenes Kind hatte sie ihn doch lieber.

Klara liebte die Natur, die Tiere und Menschen und hatte eigentlich immer ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Die häufige Schelte ihrer Tante, sie sei zu nichts zu gebrauchen und nur ein unnützes Maul, was zu stopfen ist, vergaß sie schnell, wenn sie die Tiere oder den Garten pflegte. Ein wenig neidisch war die Tante wohl, wie gut das noch junge Mädchen mit den Tieren umgehen konnte und wie der Garten gedieh, seit Klara sich darum kümmerte. Aber das hätte sie nie zugegeben.

Als Klara in die Schule kam, bewunderte sie die anderen Kinder. Bei allem bemerkte sie, was diese besonders gut konnten. Dem starken Gerd, der schon allein morgens die Milch für die ganze Klasse in die Schule trug, Julia, die so gut malen konnte oder Jan, der so schnell laufen konnte. Nur an sich konnte sie nichts finden, was sie wohl gut könnte. Zu oft hatte sie auch die Worte der Tante gehört und vielleicht hatte die ja auch recht. Ihre Lehrerin bewunderte Klara, sie konnte den Kindern so vieles erklären und blieb ruhig, auch wenn einer es nicht gleich beim ersten Mal verstand.

Eines Tages saß der starke Gerd betrübt auf der Bank hinter der Schule. Sie setzte sich neben ihn und fragte, was ihn beschäftigte. Ach, das Zählen und Rechnen wollte ihm einfach nicht gelingen. „Hm“, sagte Klara, „habe mich schon oft gefragt, wie Du die 9 Flaschen Milch für die ganze Klasse jeden Tag in die Schule tragen kannst.“ „Oh, das ist leicht. Ich habe schon klein angefangen und dem Vater tragen geholfen auf dem Hof.“ antwortete Gerd. „Und das von Montag bis Samstag … und jede Milchflasche wiegt ein halbes Kilo …“ sagte Klara. „Ich kann noch viel mehr als 4,5 Kilo tragen – bestimmt an die neun“ meinte Gerd. Klara lächelte und plötzlich grinste auch Gerd. Und auf dem Weg nach Hause zählten sie alles, was ihnen begegnete – Bäume, Hunde, Hühner und Leute. Jeden Tag zählte und rechnete der Gerd nun auf dem Weg in die Schule und zurück.

„Du kannst so schön malen.“, sagte Klara zu Julia, die vor der Schule auf der Wiese saß. „Findest Du? Danke, das hat mir noch keiner gesagt. Ich würde so gerne einen Schmetterling malen, aber ich krieg das einfach nicht hin. Die fliegen immer so schnell wieder weg.“ Klara nahm eine Tasse, tat etwas Zucker und Wasser hinein und tröpfelte etwas davon auf die Blumen, die vor Julia wuchsen. Nach einer Weile setzte sich ein Schmetterling darauf … und blieb. Das Zuckerwasser hatte es ihm angetan. Julia betrachtete den Falter sehr genau und dann malte eine ganze Weile, immer wieder Schmetterlinge. Im nächsten Unterricht bemerkte auch die Lehrerin, wie schön Julia Schmetterlinge malen konnte.

Eines Tages auf dem Heimweg sagte der schnelle Jan zu Klara „Verrate es niemandem, aber ich habe Angst, sitzenzubleiben – ich schaff das nicht mit dem Lesen. Im Unterricht konnte ich mich bislang erfolgreich drücken, aber wenn ich nicht bald besser und schneller werde, bleibe ich wohl sitzen.“ „Ich glaube an Dich und weiß, dass Du das lernen kannst, wenn Du es willst.“ antwortete Klara und nahm einen Zettel und schrieb etwas darauf. Es wurde ein längerer Zettel. Den gab sie Jan. „Mein Geheimnis“ stand da … und Jan wurde neugierig. Auch wenn es schwer fiel, er übte jeden Tag und las Stück für Stück Klaras Zettel. Jeden Tag schrieb sie ihm einen Zettel. Sie schrieb von Ihrer Mutter, der Tante und was sie so an ihren Mitschülern bewunderte. Und dann fing Jan an, ihr zu schreiben. Zunächst waren es nur kurze Zettel über den Schultag und sein Alltag mit den Eltern. Doch dann begann er auch Geschichten für sie zu schreiben – immer länger und fantasievoller. Er konnte so wunderbar erzählen und fand stets Worte, die einem die Bilder vor Augen erscheinen ließen.

Und mit der Zeit näherte sich die Schulzeit dem Ende. Fast alle hatten einen Wunsch, was sie danach tun bzw. werden wollten. Gerd würde den Hof vom Vater übernehmen, Julia wollte Kunst studieren und Jan – Sprachen. Er hatte einige seiner Geschichten einem Verlag zugeschickt und die Zusage, dass man sie veröffentlichen wollte. Nur Klara wusste nicht, was sie werden sollte.

Traurig fragte sie die Lehrerin kurz vor Unterrichtsbeginn. Die Lehrerin überlegte und fragte, was Klara denn besonders gut könnte. „Ich kann eigentlich nichts so richtig gut.“ Die anderen Schüler waren inzwischen in die Klasse gekommen und machten große Augen. „DU ..weißt nicht, was Du werden willst? Aber … das ist doch sonnenklar!“

„Ich würde nicht mehr malen, wenn Du mir nicht geholfen hättest und mich immer wieder ermuntert hättest.“ sagte Julia. „Wenn Du nicht an mich geglaubt hättest, würde ich wohl noch immer lesen lernen“ sagte Jan und Gerd grinste „Ja und ich hätte vielleicht nie das Rechnen kapiert – wenn Du mich nicht dazu ‘angestiftet’ hättest.“

Die Lehrerin lächelte, denn sie hatte verstanden. „Das wusste ich ja gar nicht. Aber offenbar hast Du eine ganz besondere Gabe. Du kannst die Begabungen anderer erkennen und fördern, Interesse wecken und lässt sie das, was sie noch nicht verstanden haben, auf ihre eigene Weise erlernen.“

Dann sah sie Klara an „Behalte Dir die wunderbare Gabe, denn in den Kindern dieser Welt liegt unsere Zukunft. Und was die anderen in Dir sehen ist mir nun auch klar … Du solltest Lehrerin werden und Deine Begeisterung für andere in ihren Herzen weitertragen.“

 

 

(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2019)

 

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