Als die alte Flasche an diesem Morgen erwachte, wusste sie noch nicht, dass dieser Tag ein ganz besonderer Tag werden würde. Schon lange lag sie in der Uferböschung des kleinen Flüsschens. Sie war in ein paar Zweigen hängengeblieben und hatte sich dort verfangen. Sie wusste nicht mehr, wie sie dort hingekommen und auch nicht, warum sie überhaupt dort war.
Für eine Flasche ist das ja ein ungewöhnlicher Ort. Sie hatte schon so viele Sommer, Herbste, Winter und Frühlinge gesehen. Von außen hatte sie eine Hülle von Schmutz angenommen. Ein rotbraunes Kleid, was sie undurchsichtig und geheimnisvoll machte. Sie bekam dadurch ebenfalls einen antiken Charme. Durch die rotbraune Schicht war sie in der Umgebung schwer zu erkennen, denn auch manche Blätter und Büsche hatten diese Farbtöne.
Manchmal fragte sie sich, ob sie dort jemand vergessen hatte. Sie fühlte sich so nutzlos und leer. Was sollte auch jemand mit einer alten, schmutzigen Flasche anfangen? Das kühle Wasser des Flüsschens umspülte sie und gab etwas Trost, aber seine Kraft reichte nicht aus, die alte Flasche fortzutragen. „Ans Meer und hinaus in die weite Welt oder zumindest auf eine Reise – mit der Strömung eines richtigen Flusses“, träumte die alte Flasche oft.
Der kleine Ben schlenderte an diesem Tag über die Wiesen und an dem kleinen Flüsschen entlang. Er war nun alt genug, dass seine Großeltern ihn die Umgebung rund um ihr Gartenhäuschen erkunden ließen. Von Zeit zu Zeit schauten sie und hatten ihn von der Terrasse aus ganz gut im Blick. Ben war langweilig und so schaute er in das kleine Flüsschen. Er hoffte, vielleicht ein paar Fische, Libellen oder Frösche zu erspähen. Stattdessen sah er die alte Flasche. „Was da wohl drin ist?“, fraget sich Ben. „Sie sieht alt aus. Vielleicht eine Schatzkarte …“, er wurde ganz aufgeregt und sah sich schon mit seinem Opa auf Schatzsuche gehen.
Aber so einfach war die alte Flasche gar nicht zu erreichen – zumindest nicht, ohne nasse Füße zu bekommen. Sie war gerade so weit entfernt vom Ufer, dass Ben sie ohne Hilfe nicht erreichen konnte. Da musste wohl sein Opa helfen. Der war ganz froh über etwas Abwechslung. Auch wenn es für ihn „nur eine alte Flasche“ war. Für seinen Enkel macht er doch so einiges. Der Opa hielt Ben fest an einer Hand und ließ ihn soweit hinab, dass er die Flasche greifen konnte.
Die alte Flasche, die in der Sonne ein bisschen gedöst hatte, wurde plötzlich hell wach. Irgendwas war anders – sie spürte das Wasser nicht mehr und sah nun ganz andere Dinge um sich herum. „Und … und … was ist drin ? Eine Schatzkarte ?“, fragte Ben aufgeregt. „Wir werden sie säubern und öffnen“, sagte der Opa, immer noch sicher, dass es nur eine alte Flasche war, die jemand weggeworfen hatte. Unter der Pumpe und mit etwas Seife wurde die alte Flasche gewaschen. Durch das noch leicht verschmutzte Glas konnte man plötzlich erkennen, dass sich tatsächlich etwas in der Flasche befand.
Der Opa wurde nun auch etwas neugierig und hielt die Flasche gegen die Sonne. Ben war nun kaum noch zu halten, „Mach sie auf, mach sie auf! Ich will die Schatzkarte sehen.“, rief er und tanzte vor Freude. „Na mal schauen, was für ein ‚Schatz‘ sich darin verbirgt“, lächelte der Opa schelmisch. Aber er wollte auch Ben die Freude nicht nehmen. Es kostete etwas Kraft, doch dann ließ sich die alte Flasche öffnen.
Sie war selbst sehr gespannt, was sich wohl in ihrem Inneren verbergen würde. Der Opa schüttelte die Flasche… und hervor kam ein Zettel. Er war gerollte und schien schon ziemlich alt zu sein. „Ein Schatz, ein Schatz“, rief Ben wieder. Der Opa nahm das Papier und entrollte es vorsichtig. Dann las er vor: …
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(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2017)