Mein Brief an Dich (Therapeutische Geschichte)

© Praxis Der Zuhörer - Steffen Zöhl, 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hallo Felix,

 ich bin es, Leah aus Deiner Schule. Wir haben einige Kurse gemeinsam. Du kennst mich vermutlich nur noch unter Muffin oder Moppel oder „die mit den Fotos“. Anfangs hast Du mich mitleidig angesehen. Jetzt sehe ich Verachtung in Deinem Blick. Ja, Du bist nie der erste, wenn es darum geht, mich zu beleidigen und fertigzumachen. Du schaust zu und stimmst irgendwann mit ein. Ich habe niemandem verraten, dass wir uns schon lange kennen und früher gemeinsam zur Schule gegangen sind. Auch über Deine Probleme, die Du mir anvertraut hast, habe ich mit niemandem gesprochen.

Mir ist klar, warum Du so über mich denkst, aber ich werde Dir meine Geschichte erzählen. Dann entscheide selbst, wie Du darüber denkst. Bis ich 13 war, hatte ich kaum Probleme in der Schule. Ich war zwar nie die Beste, aber auch nicht schlecht. Meine Eltern arbeiten beide und sorgen gut für mich und meinen jüngeren Bruder. Mein Leben hätte so einfach und schön sein können. Doch dann habe ich einmal für meine damals beste Freundin Sarah Finn gefragt, wie er sie so fände. Sie wollte nicht selbst fragen und ich tat ihr den Gefallen. Nur gefiel nicht sie ihm, sondern ich. Ich wollte damals noch nicht viel von Jungs wissen. Aber Sarah war gekränkt und wollte plötzlich nichts mehr von mir wissen. Sie glaubte, ich hätte ihr Finn ausspannen wollen. Das erzählte sie auch den anderen Mädels. Vielleicht hatte sie Angst, wie sie dastehen würde, wenn jemand erfährt, dass Finn sie nicht wollte, vielleicht war es etwas anderes.

Seit dieser Zeit ließen mich die anderen Mädels spüren, dass ich nicht dazu gehörte. Keine von denen hat mich jemals gefragt, was wirklich passiert war oder wie ich das sehe. Sie grinsten nur, machten mich vor anderen schlecht oder lästerten über mein Aussehen, meine Kleidung. Anfangs versuchte ich es zu ignorieren. Bei den anderen war es nicht so wichtig für mich, aber Sarah, die mal meine Freundin war, das tat weh. Ich zog mich immer mehr zurück und aß Süßigkeiten, um mich etwas zu beruhigen. Dadurch nahm ich zu, was den täglichen Gang in die Schule noch schwerer machte. Nun fingen auch die Jungs an, mich aufzuziehen.

Es ist schwer, allein zu sein – unter so vielen anderen und doch allein. Ich wurde anfälliger für Erkältungen, durch Stress und den vielen Zucker sprießten Pickel in meinem Gesicht und meine Leistungen in der Schule wurden schlechter. Dann begannen die fiesen Attacken im Internet : Fotomontagen, Hassnachrichten und Beleidigungen. Wenn ich mich dann mal körperlich wehrte, bekam ich den Ärger. Auch die Lehrer haben das Mobbing von Euch nicht bemerkt oder wollten es nicht sehen.

Ich traute mich nicht, mit meinen Eltern zu sprechen, weil ich mich so unglaublich schämte und anfing, mich selbst nicht mehr zu mögen – sogar zu hassen. Und dann kam Leon. Er ging auf eine andere Schule und wir sahen uns ab und zu auf dem Heimweg. Er hörte mir zu und sagte immer wieder, wie schön er mich fände und dass ich seine große Liebe sei. Es fühlte sich so gut an, mal gemocht zu werden, Komplimente zu bekommen oder getröstet zu werden. Doch als er merkte, dass ich es mochte und mich danach sehnte, forderte er immer wieder kleine „Liebesbeweise“ von mir. Mal einen Kuss oder Zärtlichkeit und dann wollte er schnell mehr. Ich war dazu nicht bereit. Da spielte er den Beleidigten und meinte, ich würde ihn nicht mögen.

Er entzog mir seine Nähe und mir ging es schlechter. Neben dem Stress in der Schule kam noch der Liebeskummer hinzu. Dann tröstete er mich und sagte, wenn ich ihm beweisen würde, dass ich ihn mag, wäre alles wieder gut. Ich bin nicht stolz darauf. Nein, ich bereue es – sehr sogar, aber ich ließ mich darauf ein. Er wollte mich unbedingt „oben ohne“ sehen und ich dachte, es wäre keine große Sache. Aber er teilte es mit ein paar Freunden und einer von denen stellte es ins Netz ein. Nun war ich plötzlich eine „Schlampe“ und nach kurzer Zeit wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben. Er, der mir seine große Liebe geschworen hatte, vermied jeden Kontakt.

Ich fühlte mich so gedemütigt, ausgenutzt und verraten. Die Blicke der anderen kannte ich, aber Dein Blick wurde auch verächtlich oder mitleidig. Das tat mir mehr weh, denn ich mochte Dich – sehr sogar. Nur habe ich mich das nie getraut, Dir zu sagen.

Irgendwann wurde mir alles zu viel. Ich wurde immer schlechter in der Schule und zog mich immer mehr zurück, ließ meine Eltern aus Scham nicht an mich heran und betrank mich an manchen Wochenenden, um alles zu vergessen. Das machte alles nur noch schlimmer.

 Ich kann nicht mehr. Dieser Brief ist das Letzte, was ich noch mache, damit Du weisst, dass da jemand war, die Dich sehr mochte. Was auch immer kommt, vergiß das nie.

 

                                                                                                                Leah

 

Als Felix diese Worte vorlas, war seine Stimme brüchig geworden und Tränen standen in seinen Augen. „Hätte ich doch nur mit ihr gesprochen. Vielleicht wäre es dann nie so passiert. Ich mochte sie und schäme mich, dass ich nicht zu ihr gehalten habe. Sie war allein.“, sagte er und ging zurück auf seinen Platz. Der Klassenraum war erfüllt von einer bedrückenden Stille und Beklemmung. Trauer, Scham und Schuld waren in den Gesichtern der Mitschüler zu sehen. Plötzlich wollte es niemand gewesen sein. Das wollte ja niemand und hätte ja keiner ahnen können. Es war ja nicht so gemeint.

 

Doch Leahs Platz bleibt für immer leer.

 

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(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2017)

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