Der Seelenspiegel
(Therapeutische Geschichte)
Hoch oben auf einem Berg, dessen Spitze über den Wolken verborgen lag, so sagt man, befindet sich der Seelenspiegel. Er ist fest mit dem Berg verbunden, so dass jeder, der in ihn blicken will, den steinigen Weg auf sich nehmen muss. Dieser Berg musste einiges aushalten – Regen, Wind, Schnee und die Tritte derer, die ihren Weg auf ihm suchten. So veränderte er ständig sein Aussehen und auch der Spiegel war mal hier und mal dort zu finden. Jeder, der ihn finden wollte, musste seinen eigenen Weg zum Spiegel finden. Manche fanden ihn nicht gleich und kehrten um, andere fanden den Spiegel schon nach einiger Strecke. Und wieder Andere wollten lieber nicht in den Spiegel sehen.
Niemand konnte erklären, wie der Spiegel funktionierte oder wie er zu finden war. Doch wer ihn einmal gefunden hatte, der fand ihn immer wieder. Manchmal in den Augen seines Gegenübers, in einem stillen Wasser oder der eigenen Reflexion.
Jeder Mensch beschrieb den Spiegel ein bisschen anders, doch für alle war er zunächst milchig-trüb und manchmal sogar verdunkelt. Auch wenn jeder vielleicht sein eigenes Bild vom Spiegel hatte, darunter waren stets die Worte „in animae veritas“ in den Stein gehauen. Und jeder der Erkenntnis suchte, sprach diese Worte und blickte in den Spiegel. Das was sie dort sahen, brachte manche zum Weinen, machte andere ärgerlich, mutig oder nachdenklich. Ganz gleich, welche Emotionen der Spiegel auslöste, nahm doch jeder für sich etwas an Erkenntnis an.
Eines Tages machte sich Philomena auf den Weg, um zu erfahren, warum sie nicht die Liebe fand, nach der sie sich so sehnte. Sie hatte sie schon so oft gesucht und war so oft enttäuscht worden. Stets fehlte ihr etwas – mal Halt und Sicherheit, mal Leidenschaft und Zärtlichkeit, mal Verständnis oder das Gefühl, geliebt zu werden. Sie war unglücklich und auch ein wenig sauer auf die Männer, die ihr nie die Liebe geben konnten, die sie sich doch so sehr wünschte. Der Herbstwind blies ihr kühl ins Gesicht und sie spürte, wie der Ärger in ihr wuchs, diesen Spiegel suchen zu müssen, um endlich Liebe zu erfahren. Manchmal schimpfte sie auch vor sich hin. Eines Tages, als sie des Suchens schon müde war, fand sie den Spiegel. Dann sprach sie die Worte, die ihr Erkenntnis bringen sollten „in animae veritas“.
Sie blickte hinein und war gespannt, was denn mit den Männern nicht in Ordnung gewesen sein könnte. Doch sie sah nur sich. Da berührte ihre Hand den Spiegel und der Spiegel zeigte ihr Bilder. In ihrem Spiegelbild waren ihre Augen trübe und … sie schien unvollständig. Es fehlten Körperteile in ihrem Bild, andere waren recht groß oder ziemlich klein. Plötzlich sah sie auch Männer im Spiegel. Auch diese schienen unvollständig. Bei manchen waren einige der Körperstellen, die ihr fehlten, recht groß oder besonders schön. Das schien sie auf eine Weise anzuziehen und doch störten sie die „Löcher“ bei den anderen.
An der einen Seite des Rahmens sah Philomena, wie eine kleine Raupe den Spiegel hinauf krabbelte. Die Raupe schien anfangs klein und schwach. Sie machte Pausen, doch dann krabbelte sie weiter und wurde größer und kräftiger, warf ihre Puppe ab und flog als wunderschöner Schmetterling davon. Sie sah, wie ihre Augen im Spiegel klarer wurden und begann zu weinen. Mit jeder Träne wurden ihre Augen klarer und auch Kummer floss ab. Sie sah nun im Spiegel, wie jede Begegnung im Spiegel ihr gezeigt hatte, was IHR fehlte. Bei jeder Begegnung hatte sie das Schöne im anderen entdeckt und bei sich als Mangel betrachtet. Jede Begegnung hatte auch etwas in ihr wachsen lassen oder gezeigt, wo es noch Wunden gab, die heilen konnten.
Und dann geschah es. Als ihre Augen sich klar geweint hatten, erkannte sie sich im Spiegel, konnte ihre Schönheit sehen und begann, sich zu lieben. Sie begann, ihre fehlenden und wunden Teile zu akzeptieren. Je mehr sie sich selbst liebte, desto mehr ließ die Liebe ihre Wunden heilen und sie konnte wachsen. Je mehr sie sich selbst liebte, desto mehr konnte sie sich selbst verzeihen, wenn sie sich oder andere verletzt hatte. Je mehr sie sich selbst liebte, konnte sie auch andere lieben und ihnen verzeihen. Je mehr sie sich selbst liebte, erkannte sie, dass es um zu lieben nicht wichtig war, ob der andere perfekt ist, sondern dass zwei Herzen zueinander passten.
Je mehr sie sich selbst liebte, fühlte sie Gewissheit, dass Liebe in ihr Leben gehörte und sie das Leben liebte. Je mehr sie sich selbst liebte, strahlte sie das nach Außen und fand kurze Zeit später die Liebe.
Als sie begann, sich zu lieben, wurde sie glücklich.
…
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(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2017)