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Die Schubladen unserer Welt – Wozu ist Schubladendenken da?

 

 

  • Tätowierte sind doch alle …
  • Jemand, die/der Die Grünen wählt, denkt …
  • Lehrer_innen sind typischerweise …
  • Dicke sind halt…
  • Die Kinder von heute können einfach nicht …

 

Wie leicht war es, diese Sätze zu vervollständigen?

 

Wir Menschen haben wohl alle unsere Schubladen, in die wir andere gern hineinstecken. Klischees, Stereotypen oder Vorurteile begleiten diesen Vorgang. Bestimmte Merkmale, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen werden gern pauschal mit bestimmten Attributen assoziiert. Während sich Stereotypen eher auf Gruppen beziehen, betreffen Vorurteile eher Einzelpersonen.

Aber warum machen wir das eigentlich? Es ist schlichtweg für unser Gehirn energiesparend und teilweise effizient. Das Prinzip von Regel und Ausnahme spart Denkleistung, beschleunigt Entscheidungsprozesse und macht das Leben manchmal einfacher. Wenn mir auf einer Straße nacheinander 5 Männer mit grünem Hut entgegenkommen und die ersten beiden verpassen mir einen Tritt, werde ich beim dritten -ohne ihn näher kennenlernen zu wollen- einfach ausweichen oder mich darauf vorbereiten. Vielleicht sind der dritte und vierte Mann nett, aber die Schublade „Mann mit grünem Hut = Tritt“ ist geöffnet und alle kommenden Männer mit diesem oder ähnlichem Merkmal werden dort hinein sortiert. In der Psychologie wäre es positiv ausgedrückt ein Lerneffekt, wenn alle Männer mit grünem Hut einen Tritt geben würden. Anderenfalls wird hier eher verallgemeinert.

So entstehen schnell Verallgemeinerungen und, wenn es genügend Mitläufer gibt, vermeintliches „Alltagswissen“ – „was man so weiss“ wie z.B.

 

  • Schotten und Schwaben sind geizig.
  • Hanseaten sind unterkühlt.
  • Berliner haben eine große Klappe.
  • Frauen können nicht einparken und Männer nicht zuhören.
  • Brillenträger sind schlauer, Blondinen dümmer.

(Auf die Sinnhaftigkeit der Aussagen möchte ich gar nicht eingehen.)

 

In früher Vorzeit war das ein teilweise überlebenswichtiger Prozess. Schlechte Erfahrungen mit Giftschlangen und Raubtieren ließen unsere Vorfahren lernen, bei allem, was entsprechende Anzeichen (Geräusche, Bewegungen etc.) waren, zu fliehen oder zu kämpfen – vorbereitet zu sein. Manchmal war es aber vielleicht nur eine Blindschleiche oder ein Wildschwein. Doch in vielen Fällen war es ein Schutz, der oft überlebenswichtig war. Gleiches galt für Begegnungen mit anderen Stämmen.

Genau hier liegt nämlich das Risiko von Schubladen. Wir nehmen uns die Chance, das einzelne Subjekt oder Objekt näher zu betrachten. Dass Schubladendenken „effizient“ ist, bedeutet nicht, dass es in jedem Fall „richtig“ oder sinnvoll ist. Die Worte eindeutig und eineindeutig (mathematisch) beschreiben es m.E. gut. Ein Banker trägt typischerweise einen Anzug (eindeutig). Aber nicht jeder, der einen Anzug trägt, ist ein Banker (nicht eineindeutig). Auch wenn vielleicht ein Anzahl von Menschen einer „Gruppe“ (im weitesten Sinne) bestimmte Attribute besitzt, müssen das nicht alle sein. Eine unangenehme Erfahrung mit einem Menschen lässt sich nicht unbedingt auf andere übertragen. Häufig bilden wir dann Gruppenschubladen, in die wir Menschengruppen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Zugehörigkeit stecken. Äußerlichkeiten, kulturelle, religiöse oder ethnische Aspekte oder bestimmte Verhaltensweisen bestimmen gern derartige Zugehörigkeiten. Es gibt jedoch unterschiedlichste Kriterien, die in Frage kommen.

Gruppen und Zugehörigkeiten sind besonders dann spannend, wenn man den Kontext betrachtet. Für gewöhnlich gehören wir nicht nur einer „Gruppe“ an, sondern je nach Kontext verschiedenen. Ich kann Vater, Sohn, Bruder, Ehemann, Freund, Schüler, Lehrer, Nichtraucher, Kunde, Dienstleister, Protestant und vieles mehr sein. Zugehörigkeiten können ganz unterschiedlichen Ursprungs sein (z.B. körperliche Merkmale, Kleidung, Alter, Musikgeschmack, Ethik, Herkunft, Schule, Hobbys, Krankheit, Sprache u.v.m.). Manche Zugehörigkeiten sind auch nur zeitweise wie z.B. eine Reisegruppe, Schulklasse oder Teilnehmer_innen eines Workshops.

Je nach Kontext werden unterschiedliche Aspekte relevant sein oder auch nicht. Bei einem Fussballspiel wird meine Weltanschauung, mein Essverhalten oder meine sexuelle Orientierung i.d.R. unbedeutend sein, die Frage, welche Mannschaft ich anfeuere, vermutlich dagegen sehr. Die Attribute, die man Dritten zuordnet (Schublade), werden ebenso von dieser Frage beeinflusst („wir“ und „die anderen“ bzw. Fan vs. Gegner). Wie schnell wir Schubladen öffnen und was wir in diesen Schubladen erwarten, hängt von individuellen Prägungen (Bezugspersonen, Persönlichkeit, Kultur, Bildung, Erfahrungswerte, etc.) ab.

Ein Video, welches das Thema „Schubladen“ für mich wunderbar verdeutlicht, habe ich im Internet gefunden. Es zeigt ebenso eindrucksvoll, wie bedeutsam der Kontext ist und wie multifaktoriell Zugehörigkeiten gebildet werden können.

 

 

 

Wir entscheiden in Bruchteilen von Sekunden bis wenigen Sekunden, ob wir unser Gegenüber attraktiv, vertrauenswürdig oder sympathisch empfinden. Ich arbeite seit vielen Jahren mit Menschen. Im ersten Kontakt ist es hilfreich, eine Einschätzung / ein Gefühl zu haben, wie ich mit diesem Menschen sprechen sollte, um z.B. eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Wenn man sich noch nicht kennt, ist es ein Herantasten (try-and-error). Erfreulicherweise habe ich wohl das Talent, eine gute Intuition in diesem Punkt zu haben. Eine Vertrauensbasis ist meine wichtigste Arbeitsgrundlage in der therapeutischen Arbeit oder beim Coaching.

Da ich jedoch nicht unfehlbar bin, achte ich gern darauf, mein Bauchgefühl auch zu überprüfen. Ich durfte schon einige Menschen kennenlernen, bei denen ich meinen ersten (optischen) Eindruck schnell revidieren konnte. Jemand in eine Schublade zu stecken, passiert manchmal unbewusst und meist SEHR schnell. Das Sprichwort „Der erste Eindruck zählt.“ zeigt einen psychologischen Effekt. Der erste Eindruck ist regelmäßig optisch, ggf. akustisch. In die erste visuelle Wahrnehmung spielen dann Assoziationen/Ähnlichkeiten, Lebenserfahrungen und unser Wertesystem  sowie Glaubenssätze mit hinein. Wir bestätigen unsere Meinung lieber, als dass wir sie widerrufen (psychologischer Effekt: selbsterfüllende Prophezeihung).

Auch Namen (Klang, Bedeutung, Assoziation) können einen Halo-Effekt haben. Der Halo-Effekt bezieht sich auf das „Überstrahlen“ eines Aspektes über die Gesamtpersönlichkeit. Tritt (insbesondere beim ersten Eindruck) ein Aspekt (Aussehen, Verhalten, o.ä.) in den Vordergrund, „färbt“ dieser oft die übrigen Eigenschaften/Aspekte ein.

  • Wer ist wohl intelligenter: Kevin oder Lukas?

Haben wir aufgrund eines Namens (z.B. Kevinismus) bereits vorab Annahmen (positive oder negative) über eine Person getroffen, nehmen wir verstärkt gleichartige (positive oder negative) wahr. Fokussierte Wahrnehmung – wir nehmen bei einer Person, die wir als positiv / sympathisch einstufen, mehr weitere positive Aspekte wahr und tolerieren negative bzw. sehen darüber hinweg. Umgekehrt funktioniert der Effekt ebenso.

Auch Assoziationen beeinflussen unseren ersten Eindruck. Treffen wir auf eine Person, die so heisst, aussieht, spricht oder sich verhält wie eine uns bekannte Person, übertragen wir gern -auch unbewusst- unser Gefühl auf diese Person.

Wenn wir uns also unseres ersten Eindrucks bewusst sind, kann es sehr sinnvoll sein, die Schublade wieder zu öffnen und einmal bewusst auf die gegenteiligen Aspekte bei der Person zu achten. Das ermöglicht es uns, ggf. ein realistisches, umfänglicheres Bild von einer Person zu gewinnen und den Halo-Effekt zu reduzieren. Und wie es so schön heisst: „Manchmal täuscht der erste Eindruck.“

Schubladen sind m.E. nicht grundsätzlich etwas Positives oder Negatives. Wir dürfen jedoch lernen, uns unserer Schubladen bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein und die Bereitschaft, den ersten Eindruck zu hinterfragen, eröffnen uns neue Möglichkeiten, anderen Menschen zu begegnen und sie kennenzulernen.

 

 

 

 

(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2019)

 

 

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrnehmungsfehler
https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Eindruck
https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1111/j.1467-9280.2006.01750.x?ssource=mfc&rss=1

 

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Steffen@dmin

    Lieber Marius Ottilie, bisher habe ich keine Reaktion auf meine Email erhalten. (?) Herzliche Grüße Steffen Zöhl

  2. Marius Ottilie

    Der Artikel ist super informativ. Ich würde auf ihn gerne in einer wissenschaftlichen Arbeit eingehen, dafür würde ich aber den Autor benötigen, wäre es möglich diesen zu erhalten?

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