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Im Land der Unfreundlichen (Therapeutische Geschichte)

Im Land der Unfreundlichen
(Therapeutische Geschichte)

Ich hatte mich eigentlich auf den Urlaub gefreut – ein anderes Land, eine neue Kultur und Sprache. Doch kaum war ich dort angekommen und noch ganz im Stress der Reise, fielen mir die unfreundlichen Menschen auf. Wohin ich auch schaute, blickte ich meist in unfreundliche, bestenfalls skeptische Gesichter. Waren die Leute einfach nur fremdenfeindlich oder warum schauten sie mich so komisch an? „Scheint das Land der Unfreundlichen zu sein.“, brummelte ich leise vor mich hin.

An einem Marktstand fiel es mir gleich auf. Der Frau vor mir packte der Obsthändler mit einem Lächeln ein paar Sachen extra in die Tüte und verabschiedete sie freundlich. Obwohl ich in seiner Sprache bestellte, erntete ich wieder nur einen abfälligen Blick. Es war zum Verzweifeln. Und hier sollte ich nun meinen Urlaub verbringen? Wie habe ich mich nur darauf einlassen können? Erschöpft und voller Selbstmitleid setzte ich mich auf eine Treppenstufe.

Plötzlich sprach mich ein kleiner Junge an, der vielleicht 6-7 Jahre alt war: „Bist Du krank?“ Ich freute mich, dass ich ihn verstanden hatte und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich zögerlich, „Wieso fragst Du?“ Er reichte mir seine Hand und ich nahm sie. Er führte mich ein paar Meter durch eine Gasse bis zu einem kleinen Laden, in dem eine alte Frau Souvenirs für Touristen verkaufte. „Ah, schon klar – eine Verkaufsmasche“, dachte ich. „Ist das Deine Oma?“, fragte ich ihn skeptisch. „Wer?“, sah er mich erstaunt an.

Und dann sah ich es. Plötzlich sah ich mein Spiegelbild in der Glasscheibe und erschrak. Hatte ICH wirklich die ganze Zeit so finster geschaut? Meine innere Anspannung stand mir bildlich ins Gesicht geschrieben. Der kleine Junge hatte mein Erschrecken und meinen verdutzten Gesichtsausdruck bemerkt und musste grinsen. Dann begann er zu lachen. Ich konnte nicht anders und lachte mit ihm. Er machte Grimassen und ich glaube, er versuchte ein bisschen, meinen finsteren Gesichtsausdruck nachzumachen. Aber ich konnte ihm nicht böse sein.

Er hatte mir den Tag versüßt und ich fühlte mich entspannter. Die alte Frau sprach mich plötzlich mit einem Lächeln an: „Kommen Sie gerne herein, wenn Sie wollen.“ Sie war die erste, die mich heute angelächelt hatte und so trat ich ein. Obwohl ich eigentlich nichts kaufen wollte, fiel mir doch ein bemaltes Holzschild auf. Ich kaufte Wasser und ein paar Snacks für unterwegs. Die alte Dame hatte wohl meine Blicke bemerkt und packte es mit ein. „Ein Geschenk – als Erinnerung.“, sagte sie lächelnd. Als ich das Geschäft verließ, war der Junge verschwunden.

Doch die Menschen, die mir entgegenkamen, lächelten mich an. Alle schienen wie ausgewechselt. Das machte mir meinen ersten Tag plötzlich viel leichter. Abends traf ich zur Begrüßung einen meiner einheimischen Reiseleiter und zeigte ihm mein Andenken. „Das ist weise.“, sagte er. Ich fragte ihn, was es denn bedeuten würde. Sinngemäß stand darauf „Die Welt ist Dein Echo.“

Ich lächelte und verstand. Nun begann mein Urlaub im Land der Freundlichen.

 

 

 

(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2019)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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